G e l n h a u s e n . Es ist eine Reise in eine andere Zeit. In eine Zeit, als Abiturienten noch Oberprimaner hießen. Als Lehrer noch Schlips und Anzug trugen und „Fräulein“ die übliche Anrede einer unverheirateten Lehrerin war. Am Grimmelshausen-Gymnasium war es die Zeit des „Fähnleins der sieben Aufrichtigen“. Vor 50 Jahren legten dort sieben junge Männer ihre Abiturprüfungen ab. Es war die kleinste Abi-Klasse in Hessen – wahrscheinlich aller Zeiten. Gestern haben sich die ehemaligen Grimmels in der Stadt ihrer Jugend wiedergetroffen.
Von David Noll, 50 Jahre Abitur am GGG: Die wohl kleinste Abi-Klasse Hessens erinnert sich
Helmut Lebeau und Jürgen Petzoldt blättern durch einen Schnellhefter. Darin haben die ehemaligen Grimmels zum 40. Jahrestag ihres Abiturs unterschiedlichste Erinnerungen gesammelt: jede Menge alte Fotos, Kritzeleien aus dem Unterricht und Anekdoten aus der Schulzeit. Immer wieder deuten Lebeau und Petzoldt auf einzelne Bilder: „War das in Physik?“, fragt Petzoldt. „Nein, ich glaube in Chemie“, vermutet Lebeau beim Blick auf das alte Schwarzweiß-Foto. Der 69-jährige Lebeau hat das Klassentreffen des „Fähnleins der sieben Aufrichtigen“ organisiert. Der ungewöhnliche Name ist die augenzwinkernde Selbstbeschreibung der Klasse O1b, wie die damals gängige Bezeichnung lautete. Lediglich sieben Schüler legten in dieser Klasse ihre Abiturprüfungen ab. Ein reiner Männer- Trupp. „Es gibt einen Klassenkameraden, der regelmäßig wettet, dass wir die kleinste Abiturklasse aller Zeiten waren. Bisher hat er die Wette stets gewonnen“, erzählt Lebeau lachend. Die Geschichte des Abiturjahrgangs 1964 ist auch die Geschichte der Entwicklung des Grimmelshausen-Gymnasiums. „In der fünften Klasse wurden wir noch in den Baracken unterrichtet“, erinnert sich Lebeau. Anschließend zogen die Schüler mit Klassenlehrer Dr. Georg Beck an den Obermarkt in die ehemalige Augusta Schule. 1959 war die Beck- Truppe dann eine der ersten Klassen, die in den damaligen Neubau (das heutige Gebäude A) am jetzigen GGG-Standort zogen. Anders als heute mussten die Schüler ihren Weg in die Schule noch selbst bewerkstelligen. An einen Schulbus verlor in den frühen 60er Jahren noch niemand einen Gedanken. Die meisten Schüler der O1b kamen morgens mit dem Zug. So auch der damals in Wächtersbach lebende Helmut Lebeau und der jeden Morgen aus Bad Orb anreisende Jürgen Petzoldt. „Wir sind jeden Tag zu Fuß vom Bahnhof an den Obermarkt gelaufen. Kein Wunder, dass niemand aus der Klasse mit Gewichtsproblemen zu kämpfen hatte“, erzählt Lebeau. In den alten Räumen in der Augusta-Schule erinnerte damals nicht viel an Schule, wie man sie heute kennt. Statt Gasoder Ölheizung sorgten Holzöfen für die richtige Temperatur. „Wir haben immer wieder Kerzen auf die Öfen gelegt, die dann geschmolzen sind und furchtbar gestunken haben“, erinnert sich Lebeau lachend Auch sonst schien die Stimmung in der Klasse damals gut gewesen zu sein. So mancher Scherz hat sich noch nach Jahrzehnten ins Gedächtnis der Schüler eingebrannt. So werden sich einige Passanten am Obermarkt manchmal gewundert haben, wenn aus jugendlichem Überschwang nasse Schwämme durch die offenen Fenster flogen. Viel Zeit verbrachten die angehenden Abiturienten damals in der Turnhalle. Auch heute ist der Raum noch gut besucht – allerdings eher aus kulturellen, denn aus sportlichen Gründen. Wo früher die Schüler an Barren oder Reck turnten, tauchen die Besucher heute im Museum in die Grimmelshausen- Welt ein. Ebenso geschichtsträchtig ist ein Raum über der damaligen Turnhalle, der eigentlich nicht größer als eine Rumpelkammer ist. Dort gründete die Klasse den noch heute am GGG beliebten Jazzkeller. „Wir waren quasi die Erfinder des Jazzkellers“, sagt Petzoldt. Joachim Fischinger, ein anderer Klassenkamerad der aufrichtigen Sieben und Verwandter der beiden gleichnamigen Trickfilmpioniere, spielte auf seinem selbst gebauten Bass. „Das war eine tolle Zeit“, erinnert sich Petzoldt. Im Frühjahr 1959 erfolgte schließlich der Umzug in den Neubau. Damals bestand das GGG noch lediglich aus einem kleinen Grundgebäude, das etwa 700 Schülern Platz bot. Das Klassenzimmer befand sich damals in einem kleinen Raum, der eigentlich als Schulbibliothek ausgelegt war. Vollgestopft mit Büchern, aber alternativlos. „Dadurch konnten wir uns nicht einmal damit herausreden, dass wir unsere Bücher vergessen hatten“, scherzt Lebeau. Während sich die Gebäude von außen und innen in den vergangenen fünf Jahrzehnten stark verändert haben, scheint der Unterricht selbst vor 50 Jahren nicht viel anders abgelaufen zu sein als heute. „Es gab noch nicht das Kurssystem von heute, aber ansonsten war der Schulalltag nicht viel anders“, meint Petzoldt. Auch die Lehrer seien nicht strenger gewesen. „Es war teilweise sogar sehr locker“, ergänzt Lebeau. So haben die jungen Männer vor allem ihrem beliebten Klassenlehrer Dr. Georg Beck gerne Streiche gespielt. „Einmal hatten wir uns im Klassenraum eingeschlossen. Als wir ihn schließlich reinließen, war er zunächst so sauer, dass er seine Aktentasche von der Tür auf sein Pult geschleudert hat“, schmunzelt Petzoldt. Nachhaltig verärgert haben sie ihren Klassenlehrer damit wohl nicht – im Gegenteil. Nach dem Abitur feierte die Klasse gemeinsam mit Beck in dessen Haus. Auch eine Widmung des langjährigen GGG-Lehrers im Abibuch der „O1b“ zeigt, wie verbunden Lehrer und Schüler einander waren (siehe Kasten). So wundert es nicht, dass die Klassenkameraden bei ihrem gestrigen Treffen zuerst den Friedhof besuchten, auf dem ihr ehemaliger Lehrer seine letzte Ruhe gefunden hat. Anschließend ließen sich die Ex-Grimmels von Jürgen Steigerwald durch das „neue Gelnhausen“ in den ehemaligen USKasernen im Herzbachtal führen, ehe natürlich der obligatorische Besuch im Grimmelshausen-Gymnasium anstand.
Quelle: GNZ, 20.5.2014