Joschua Neeb verbringt einen vierwöchigen individuellen Austausch in Santiago de Compostela /Spanien
Es ist schon ein komisches Gefühl, morgens in seinem heimischen Bett aufzuwachen und zu wissen, ein paar Stunden später würde man 2400 Kilometer entfernt sein.
Santiago de Compostela, ist das nicht die Stadt, in der der weltberühmte Jakobsweg endet? Genau, das ist sie. Leider hätte mir für den Weg der Pilger die Zeit nicht gereicht, da mich das Grimmelshausen Gymnasium für vier Wochen vom Unterricht befreit hatte, damit ich diese Zeit an einer spanischen Schule verbringen konnte. Dank Lufthansa und Swissair gelang ich so im Nu über Zürich nach Santiago de Compostela. Die Metropole mit 96.000 Einwohnern ist zugleich Hauptstadt der Region Galizien sowie ein begehrtes Ziel für Tausende von Pilgern. Das Flair dieser Stadt durfte ich in den nächsten vier Wochen entdecken. Einer der wichtigsten Aspekte meines Auslandsaufenthaltes war meine Gastfamilie, die mir von Anfang an sehr sympathisch erschien. Ich hatte das Vergnügen bei dem 17jährigen Rodrigo Bello im schönen Vorort Milladoiro wohnen zu dürfen. Dessen Eltern Mónica Raposo und Juan Bello empfingen mich genau wie ihr Sohn mit offenen Armen. Sofort wurde ich in das Familienleben integriert. Sehr bald lernte ich den Rest der Familie kennen, bestehend aus Urgroßmutter, Großeltern, Tante und Onkel sowie Cousin. Bei regelmäßigen Familientreffen, aber auch im kleinen Kreise meiner Gastfamilie, kam ich in den Genuss der außergewöhnlichen spanischen und galizischen Küche. Pulpo, übersetzt Tintenfisch, Tortilla, spanischer Schinken sowie Muscheln gehörten hierbei zu meinen Leibgerichten.
Die Woche über begleitete ich Rodrigo in die Schule. Rosalía de Castro hieß die mitten im Zentrum von Santiago gelegene offizielle Partnerschule des GGG, die ich einen Monat lang als Gastschüler erkundete. Der Schulleiter Ubaldo Rueda und die Deutschlehrerin Gemma Paredes, selbst in Deutschland aufgewachsen, unterstützten mich durchgehend mit ihrer warmen, willkommen heißenden und hilfsbereiten Art. Dank eines gut konzipierten Stundenplans, der für mich Unterricht in der 10. sowie 11.Klasse vorsah, hatte ich die Möglichkeit, am spanischen Schulalltag in vielfältiger Art und Weise teilzunehmen. Glücklicherweise begann die Schule erst um neun Uhr, sodass ich immer etwas länger als in Deutschland schlafen konnte. Allerdings endeten die Klassen dafür erst um 14.30 Uhr, montags sogar um 18.30 Uhr. Folglich war der Tagesverlauf auch etwas anders als in Deutschland. Man aß um 15 Uhr zu Mittag, drei bis vier Stunden später gab es Kaffee und Kuchen. Das Abendessen stand meistens um 22 Uhr auf dem Tisch.
Von Anfang an fiel mir die Sprachenvielfalt am Rosalía de Castro auf. Mathematik und Geschichte wurden entweder auf Englisch oder Spanisch unterrichtet, während in Galizisch, Biologie und Philosophie ausschließlich die galizische Sprache verwendet wurde. Spanische Literatur, Ethik, Chemie und Physik fanden in Spanisch statt, wobei in letzteren beiden Fächern die Arbeitsblätter auf Galizisch waren. In den Fremdsprachen Englisch, Deutsch, Französisch oder Portugiesisch sprach man natürlich kein Spanisch oder Galizisch.
Allgemein wurde mir während meines Aufenthaltes klar, dass die Koexistenz von Galizisch und Spanisch nicht einfach zu beschreiben ist. Rodrigo beispielsweise ist galizischer Muttersprachler, kommuniziert mit seinen Freunden jedoch in Spanisch.
Für mich persönlich war diese andauernde Zweisprachigkeit sehr interessant, genau wie die dortige Unterrichtsgestaltung. Viele Lehrer redeten die ganze Stunde über und die Schüler durften zuhören. Mündliche Mitarbeit gab es fast gar nicht, dafür machten Klausuren fast 100 Prozent der Note aus. Das Fach, in dem ich am meisten verstand, war der Deutschunterricht. In diesen Unterrichtsstunden wurde mir klar, wie schwer es für einen Nichtmuttersprachler doch sein muss, die deutsche Sprache zu lernen. Wie fühlt man sich als einziger Deutscher inmitten von Spaniern? Meine Erfahrungen sind ausschließlich als positiv zu beschreiben. Beide Klassen nahmen mich von Anfang an in ihre Gemeinschaft auf. Besonders viele interessierten sich für meinen kulturellen Hintergrund und stellten mir Fragen zu Deutschland. Ich konnte viele Freundschaften knüpfen und traf mich mit einigen Leuten auch außerhalb der Schulzeit. Zusammen mit Rodrigo und seinen Freunden erkundeten wir zum Beispiel die verschiedenen Bars von Santiago, schauten das Champions-League-Finale zwischen Real Madrid und Atlético Madrid oder chillten einfach im Stadtpark.
Insgesamt wollte ich viele spanische Menschen kennenlernen und begleitete Rodrigo daher bei vielen Alltagssituationen, zum Beispiel in die Englischakademie, den Konfirmandenunterricht, der in Spanien für Katholiken bestimmt ist, oder einfach zum Friseur. Eine weitere Inspiration für mich stellte das spanische Fernsehen dar. Durch Serien wie „How I met your mother“, in Spanisch übrigens „Cómo conocí a su madre”, oder die Simpsons konnte ich ohne große Anstrengung und mit Freude meine Sprachkenntnisse verbessern. Man kann nun also sagen, dass ich Santiago de Compostela mit all seinen Facetten kennengelernt habe. Besonders im Gedächtnis bleibt mir die weltberühmte Kathedrale, in der sich das Grab des Heiligen Jacobus befindet. Zwar fehlten mir durch meine Anreise die spirituellen Erfahrungen, die man als Pilger auf dem Jakobsweg machen soll. Doch in diesem besonderen Moment, als ich von unzähligen Pilgern aus der ganzen Welt umgeben war, konnte ich trotzdem das Heilige Ambiente in mich aufsaugen. Meine Gastfamilie sorgte durch weitere erlebnisreiche Ausflüge für die Erweiterung meines geografischen Horizonts. Ich lernte durch sie die schönsten Stellen Galiziens kennen. Kap Finisterre, den westlichsten Punkt Europas, werde ich nie vergessen. Dort angekommen, konnte man nichts anderes bewundern als das tiefe Blau des Atlantischen Ozeans. La Coruña, eine Hafenstadt im Norden der Region, verzauberte mich mit ihrem marinen Flair. Einen absoluten Höhepunkt stellte für mich jedoch ein Tagesausflug ins benachbarte Portugal dar. In Porto, der sogenannten „heimlichen Hauptstadt Portugals“ hatte ich nun die Möglichkeit, auch die portugiesische Küche zu genießen. Zudem hatte ich vorher noch nie so farbenfrohe Häuser wie in jener Atlantikmetropole gesehen. Leider kam viel zu schnell der Moment des „Adiós-Sagens“. Bei einem Abschiedsfest ließen wir mit Liedern wie „Bailamos hasta las diez“ von Enrique Iglesias meine unglaublich schönen vier Wochen ausklingen. Ehe ich mich versah, saß ich schon wieder im Flieger und steuerte auf Frankfurt zu, wo ich meine Eltern in die Arme schließen konnte.
Rückblickend war dieser Einzelaustausch eine tolle Möglichkeit, besonders tief in die Kultur und das Alltagsleben Spaniens einzutauchen, meine Sprachkenntnisse enorm zu verbessern sowie viele kostbare Freundschaften zu knüpfen, die im Moment leider auf eine rege WhatsApp-Kommunikation reduziert sind. Rodrigo möchte mich auch bald in Deutschland besuchen, worauf ich mich sehr freue. Ich persönlich hoffe, irgendwann wieder nach Santiago zurückkehren zu können. Vielleicht dann über den Jakobsweg, zumindest auf dem Hinweg. Wer weiß?