Ludwig Pappenheim
Teil 1: Die Geschichte, Ludwig Pappenheims
Ein Schlag, dann ein zweiter und dann ein dritter. Ist es denn überhaupt der dritte, oder schon der hundertste? Ich weiß es nicht, ich weiß nicht einmal, wie spät es ist, oder, wo oben und unten ist. In meinem Kopf dreht sich die Welt und ein Wirbel aus bunten Punkten liegt über allem, was ich durch meine verquollenen kleinen Augen erkennen kann. Einige Minuten oder Stunden später schleifen sie mich endlich zurück, mein Rücken reißt durch den harten Stein auf, aber ich spüre es kaum. Erst, als sie mich gegen die Innenwand meiner Zelle schmettern, keuche ich vor Schmerz auf und krümme mich auf dem Boden zusammen. Dort verharre ich mit flachem Atem, bis die beiden fort sind und Anton mir seine Hand auf die Schulter legt. Er greift mich vorsichtig unter den Armen und schleppt mich zu meinem Bett. Nun eigentlich ist es lediglich ein Stück Holz, das nur minimal weicher, als die Steinfließen ist, aber nach den drei Monaten, die ich schon hier bin, weiß ich nicht einmal mehr, wie sich ein richtiges Bett anfühlt. Eine Flüssigkeit tropft über mein Kinn hinweg auf den Boden, aber ich kann nicht sagen, ob es Rotz, Tränen oder Blut ist. Anton sitzt mir gegenüber auf dem Zellenboden, den Rücken gegen die Wand gelehnt und starrt in die Leere. Gestern saß ich dort und er lag hier, nachdem sie mit ihm fertig waren. Zu Anfang haben wir beide noch viel miteinander geredet, mittlerweile fehlt uns die Kraft dazu. Er ist hier, weil er einen Mann geküsst hat. Sie sagen, er wäre krank, verhalte sich unnatürlich und müsse geheilt werden. Mir kommt er nicht krank vor und selbst, wenn er es wäre, glaube ich nicht, dass das, was sie tun, ihn kurieren könnte. Ich bin wegen vielem hier. Weil ich Jude bin, weil ich Mitglied der SPD und der USPD war, wegen der Volksstimme, einer Zeitung, die ich gegründet habe und deren Chefredakteur ich war. Und, weil ich es einfach nicht gut sein lassen konnte. Aus meinen kurzzeitigen Verhaftungen 1918 und 1924 konnte ich mich schnell herauswinden, aber ich fürchte, die Welt funktioniert nun nicht mehr so, wie sie sollte. Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem alles bergab ging. Der 25. März 1933. Sie sind jäh und plötzlich in unser Haus in Schmalkalden hereingestürmt, wie die beiden vorherigen Male. Ich war mir sicher, dass ich bald wieder auf freiem Fuß wäre, aber, wie es scheint, habe ich dabei sowohl die Gerechtigkeit als auch meinen eigenen Einfluss überschätzt. Ein rechtmäßiger Haftbefehl, eine gerechte Verurteilung? Fehlanzeige, schließlich ist das für Schutzgefangene nicht nötig, wie ich zwar erfahren, aber nicht akzeptieren konnte. Dabei war bis dahin alles so gut gelaufen. Am 5. März wurde ich erneut in den hessischen Landrat gewählt, später erfuhr ich dann, dass das Ergebnis für ungültig erklärt worden war. Und damals dachte ich noch, die Verlegung in das Konzentrationslager Breitenau wäre das Schlimmste, was mir je passieren könnte. Die Wärter waren grob und unfreundlich und auch dort habe ich Misshandlung erlebt, aber verglichen mit dem Ort, an dem ich jetzt bin, waren sie noch die Höflichkeit in Person. Es ist schon eine traurige Ironie, dass ich genau in der Einrichtung festgehalten wurde, deren Führung ich noch zu meinen Zeiten als Provinziallandtagsabgeordneter kritisiert hatte. Ach ja, das Kritisieren. Es ist immer notwendig, aber ist um einiges leichter, wenn man am längeren Hebel sitzt. Naiv und trotzig, dachte ich noch in Breitenau, dass ich das täte. Ich habe geschrieben, viele scharfe Briefe, in denen ich mich über die Justiz und die Nazis ausgelassen habe. Keine Sekunde lang habe ich daran gezweifelt, dass sie eine so einflussreiche Person, wie mich, nicht ohne weiteres festhalten könnten. Meine für den 21. Juli 1933 geplante Entlassung rückte immer näher und ich malte mir schon die rechtlichen Schritte, die ich in die Wege leiten würde, aus. Wie herrlich verblendet ich doch war, nicht zu erkennen, dass sich die Zeiten geändert hatten. Als sie sich am Tag meiner Entlassung weigerten, mich gehen zu lassen, geriet meine Entschlossenheit das erste Mal ins Wanken. Zwei Tage später schrieb ich einen Entlassungsgesuch und bettelte praktisch, klammerte mich verzweifelt an jeden Strohhalm, den ich zu fassen bekam. Meine gute Gefängnisführung, meinen Dienst im Krieg, meine Familie. Doch es half nichts und während die Pflanzen im Oktober ihre Blätter zum Sterben abwarfen, brachte man mich am 18.10.1933 hierher, nach Neusustrum. Noch bin ich nicht tot, glaube ich zumindest, aber wenn das hier so weiter geht, dauert es nicht mehr lange.
Es ist der heute der 4. Januar 1934 und ein guter Tag. Traurig, schwer und düster, aber ruhig. Noch ist keiner gekommen, um einen von uns beiden abzuholen, wir haben Wasser und etwas zu essen. Meine Rückenverletzung von vor 10 Tagen ist gestern Nacht wieder aufgerissen, doch ansonsten geht es mir gut, zumindest, den Umständen entsprechend. Anton dagegen sieht furchtbar aus. Sein Gesicht ist mit Schnitten und sein Oberkörper mit blauen Flecken übersäht, trotzdem sitzt er aufrecht auf seinem Bett und scheint nachzudenken. Seit heute Morgen, und das ist jetzt einige Zeit her, hocken wir beide schon schweigend und in Gedanken versunken da, doch jetzt flüstert er etwas. „Was hast du gesagt?“, Ich rücke ein Stück in seine Richtung, um ihn besser verstehen zu können. „Hast du eigentlich Familie?“, krächzt er diesmal etwas lauter. Ich krieche wieder zurück. „Ja“, antworte ich ihm, „Meine Frau und 3 Kinder.“ „Wie alt?“, hakt er nach. Ich muss einen Moment überlegen: „Frieda, meine Frau, ist jetzt 37. Ruth müsste jetzt 9 und Günther 8 sein. Und Kurt 6. Ich habe auch noch eine Stieftochter, Erna, aber sie ist, glaube ich, schon 20 Jahre alt.“ „Und denkst du, dass deine Frau versucht, dich hier rauszuholen?“ Auch diese Frage muss ich erst einmal sacken lassen: „Ich hoffe nicht, letztendlich würde das ihnen allen nur schaden. Das Beste, was Frieda jetzt machen kann, ist, die Füße stillhalten und hoffen, dass die Nazis sie vergessen.“ Anton nickt verständnisvoll. „Meinen Freund haben sie erschossen.“, sagt er verbittert, „Ich hoffe, dass es deiner Familie besser ergeht.“ „Ich auch“, flüstere ich und sinke mit geschlossenen Augen gegen die Steinwand. Und so sitzen wir beide wortlos in der Dunkelheit, schon fast in den Tiefschlaf gesunken, bis uns das Knallen der Zellentür aufschrecken lässt. Sie sind also doch gekommen, sogar noch so spät. „Ludwig Pappenheim!“, ruft einer der beiden Wachmänner barsch, „kommen Sie mit uns!“ Heute bin ich es also. Seufzend stehe ich auf und folge dem, der gesprochen hat, humpelnd auf den Gang hinaus. Hinter mir geht der zweite Mann und richtet sein Gewehr drohend auf meinen Rücken. Als ob ich eine Gefahr darstellen würde. Entgegen meiner Erwartungen steuern sie aber nicht auf den Folterraum zu, sondern eskortieren mich zielstrebig zum Eingang der Einrichtung. Dort steht ein schwarzer Transporter bereit, die beiden packen mich und zerren mich in den Innenraum. Das Fahrzeug setzt sich ruckelnd in Bewegung. „Wohin fahren wir?“, wage ich zu fragen. „Das wirst du noch sehen“, sagt einer der zwei lächelnd und hält weiterhin sein Gewehr auf mich gerichtet. Ob der Landrat wohl meine Verlegung in ein anderes KZ beantragt hat. Laut ihm sollte ich ja eigentlich nach Osnabrück kommen, vielleicht ist es ja jetzt soweit. Unerwarteter Weise kommen wir jedoch schon wenige Minuten später zum Stehen. Einer der Männer öffnet die Tür, draußen ist es schon stockdunkel. Er dreht sich zu mir um und sagt auf einmal in einem viel ruhigeren, aber ernsten Ton: „Laufen Sie jetzt, schnell. Die werden sich bald fragen, wo Sie geblieben sind.“ Ich bin sichtlich perplex, als ich das höre. Kann das wirklich sein? Komme ich endlich hier heraus? Ich bin schon halb auf den Beinen, als mir auf einmal auffällt, dass die beiden immer noch ihre Gewehre umklammert haben. Und nicht nur das: Der zweite Wachmann hat sich von mir weggedreht, doch aus dem Augenwinkel kann ich erkennen, dass er Mühe hat, seine Mundwinkel unten zu halten. Er lacht, er will es nicht zeigen, aber er lacht mich aus. Die wollen mir nicht zur Flucht verhelfen. Das wird eine Exekution. Langsam setzte ich mich wieder. Ich sollte eigentlich Panik haben, doch stattdessen fühle ich eine seltsame Leere in mir. Friedlich, aber gleichgültig. „Nein!“, sage ich, „Tut es hier. Ich will dieses Spiel nicht mitspielen, ich bin kein Karnickel, dass man in seinen Tod hetzt.“ Die beiden wechseln einen Blick. „Wie du willst“, sagt der Kräftigere der beiden und versetzt mir eine Tritt, der mich aus dem Wagen schleudert. Bäuchlings liege ich am Boden, den Mund voller Erde und habe weder die Kraft, mich aufzurichten, noch die Hoffnung, dass es mich retten wird. Also bleibe ich, wo ich bin, stöhne nicht, weine nicht und bettle nicht. Ich bin bereit zu gehen.
Sarah Schum (10.5)